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Nidwalden
Das Stanser Orgelfeuerwerk frischte längst verdrängte Erinnerungen auf.
Die Stanser Pfarrkirche war voll besetzt, als das 22. Orgelfeuerwerk zum Nationalfeiertag zündete. Es war eine kurzweilige Stunde zum Zuhören, Mitsingen und Nachdenken.
An den Spieltischen der Orgeln sass der St. Galler Organist, Komponist, Dirigent und Bach-Spezialist Rudolf Lutz. Er gilt als Experte der Improvisation, der aus der Inspiration des Moments heraus musiziert. So waren aus dem Eröffnungsstück, das er auf der kleinen Chororgel aus dem Jahre 1646 spielte, nicht nur der Schweizerpsalm und das Rütlilied, sondern auch «Happy Birthday» herauszuhören. Ganz planlos gelingt solch musikalischer Vortrag dann aber doch nicht. In drei Stunden Vorbereitungszeit hat Lutz in die Stanser Orgeln hineingehört, Klangfarben ausprobiert und die Register auf der grossen Orgel für schnelle Wechsel elektronisch programmiert.
Als Pendant zur musikalischen Betrachtung heimatlicher Gefühle war der Berner Historiker André Holenstein zu Gast. Er lud das Publikum zu einer locker-ironisch vorgetragenen Geschichtslektion ein. In Form eines fiktiven Dialogs zwischen einem Schweizer und einem Nidwaldner warf der Professor für ältere Schweizergeschichte zunächst die Frage auf, welche Erzählung denn nun eigentlich gefeiert werde: der Rütlischwur oder der Bundesbrief?
Als Holenstein als Alternative die 175-jährige und einwandfrei verbürgte Bundesverfassung ins Spiel brachte, wurde es aber aus Nidwaldner Sicht ungemütlich. Denn dem Kanton wurde 1848 der neue Bundesstaat von den Miteidgenossen aufgezwungen. Die jahrzehntelange Trotzhaltung gegen neue Ordnungen war vergeblich gewesen. In kurzer Abfolge war Nidwalden in die Helvetische Republik gedrängt worden, musste eine eidgenössische Besetzung erdulden und schliesslich im Sonderbundskrieg gegen die liberalen Kantone kapitulieren. Selbst die Engelberger hatten sich losgesagt und wollten lieber zu Obwalden gehören.
Holenstein ist verwandtschaftlich mit Nidwalden verknüpft und kennt die Befindlichkeiten hierzulande. So hatte er das geschichtsaffine und gut gelaunte Publikum schnell auf seiner Seite. Und dieses konnte sich ein Schmunzeln ab und zu nicht verkneifen. Etwa als Holenstein in Erinnerung rief, dass Nidwalden nicht nur die Bundesverfassung, sondern auch ihre Revisionen – zuletzt 1999 – abgelehnt hat.
Doch der Historiker, der unter anderem über Souveränität und Selbstbestimmung geforscht und publiziert hat, kennt die Gründe der Verweigerung. «Wir hatten Angst vor den anderen Kantonen», liess er den fiktiven Nidwaldner sagen. Angst vor den grossen Kantonen, vor den Liberalen, den Protestanten. Angst vor der Niederlassungsfreiheit, vor Mischehen und neuen Ideen.
Wie zur Versöhnung spielte Rudolf Lutz daraufhin ein «föderales Potpourri», in dem er feinfühlig bekannte Melodien wie das Guggisberglied, «Le vieux chalet» oder den Sechseläutenmarsch verarbeitete. Zwischendurch erhielt das Publikum immer wieder Gelegenheit, ab Liedblatt aus voller Kehle mitzusingen. Etwa das Rütli- und das Sempacherlied, die Nidwaldner- und die Nationalhymne. Wobei Letztere mit dem alternativen und bislang inoffiziellen Text «Weisses Kreuz auf rotem Grund» mindestens so inbrünstig klang wie einst «Trittst im Morgenrot daher».
André Holensteins Betrachtungen endeten in der Feststellung, dass zumindest für die Stanser Bevölkerung die Winkelriedfeier am 9. Juli ohnehin den höheren Stellenwert hat als die Bundesfeier. Und als Rudolf Lutz das Abendlied «Lueget vo Bärge und Tal» fulminant ins Nidwaldner Tanzlied münden liess, war die arg gebeutelte Nidwaldner Seele wieder im Reinen mit sich selbst und mit dem Rest der Schweiz.