Nidwalden
Eine Kindheit mit Folgen bis ins Erwachsenenalter

Der Kanton Nidwalden arbeitet das Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 auf. Nun fand im Chäslager eine öffentliche Podiumsdiskussion mit Betroffenen statt.

Daniela Gröbli
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Bis 1981 gab es in der Schweiz fürsorgerische Zwangsmassnahmen. Menschen wurden ihrem Umfeld entrissen, fremdplatziert, in Heime gesteckt oder als günstige Arbeitskräfte ausgebeutet. Die Massnahmen wurden oft gegen den Willen der Betroffenen und ohne Möglichkeit, sich zu wehren, angeordnet. Viele der Betroffenen erlebten Gewalt und Missbrauch. Erlebnisse, die ein Leben lang nachwirken.

Die beiden Betroffenen Markus Christe und Marie-Lies Birchler erzählen von ihren Erlebnissen.

Die beiden Betroffenen Markus Christe und Marie-Lies Birchler erzählen von ihren Erlebnissen.

Bild: Daniela Gröbli (Stans, 7. 9. 2023)

Mit Unterstützung von Bund, Kantonen und Stiftungen hat der Verein «Gesichter der Erinnerung» die Lebensgeschichten von Betroffenen und Angehörigen gesammelt, um sie auf www.gesichter-der-erinnerung.ch zugänglich zu machen. Parallel dazu gibt es in der ganzen Schweiz öffentliche Veranstaltungen, an welchen Betroffene von Erlebnissen berichten, und der Verein erschafft damit eine Plattform, um über dieses dunkle Kapitel zu sprechen.

Ein Anlass zum Nachdenken

Am vergangenen Donnerstag lud der Kanton und der Verein «Gesichter der Erinnerung» zu einer Podiumsdiskussion ins Chäslager Stans ein. «Stell dir vor, es geschieht Unrecht, und fast alle schweigen», das waren die Einstiegsworte von Regierungsrat Peter Truttmann. Bereits diese Worte machen betroffen und regen zum Nachdenken an. Denn Kinder mussten häufig ohne Entlöhnung hart arbeiten, waren einsam, ohne Geschwister und elterliche Liebe. Die Gründe für eine fürsorgerische Zwangsmassnahme waren meist Vorbeugung der Armut oder man traute den Eltern nicht zu, ihre Kinder anständig zu erziehen. Sei es wegen Alkoholsucht oder einem «liederlichen» Lebenswandel. Und unter «liederlich» konnte jemand gezählt werden, der seine Stelle zwei- bis dreimal verlor.

Dabei gab man den Betroffenen kaum Gelegenheit, sich zu wehren. Man wurde gezwungen, den Entscheid zu akzeptieren. «Kinder sind in wenigen Jahren so kaputt gemacht worden, dass sie ein Leben lang kaputt geblieben sind.» Diese Worte von einem Betroffenen beschreiben eindrücklich, welche Folgen die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen mit sich gezogen haben. Die beiden Betroffenen Markus Christen und Marie-Lies Birchler erzählten an diesem Abend von ihren Erlebnissen und dessen Folgen. Wie sie ihre Kindheit in Angst und Unsicherheit erleben mussten, weil sie nie wussten, ob sie auf dem Schulweg verprügelt wurden. Und das nur, weil sie Heimkinder waren.

Verachtung, Missbrauch und Misstrauen erlebten sie nicht nur im Heim, sondern auch in der Gesellschaft, die sie systematisch stigmatisierten. «Als ich mit einem Brot ins Heim lief, fragte man mich, ob ich es auch bezahlt habe», erzählte Markus Christen, der sofort verdächtigt wurde, das Brot gestohlen zu haben. Ein Erlebnis, das bis ins Erwachsenenalter nachwirkte, da es den Betroffenen bis heute schwerfällt, vertrauen zu jemandem aufzubauen. «Bei einer Fremdplatzierung wurde angenommen, dass es den Kindern gut geht», erläutert die Historikerin Loretta Seglias, «dem war vielfach nicht so.» Auch wenn die Kinder einen Vormund hatten, sahen sie über Jahre hinweg niemanden, der zu ihnen kam, um zu sehen, wie es ihnen geht. Das hiess für die Betroffenen, dass sie schon von klein an auf sich allein gestellt waren.

Nidwaldner Forschungsprojekt zur Aufarbeitung

Seit 2022 hat der Kanton mit allen Nidwaldner Gemeinden und den Landeskirchen ein Forschungsprojekt für die Aufarbeitung des Geschehenen gestartet. Als Resultat daraus wird im Herbst 2024 ein Buch herausgegeben.