Ein autistisches Kind zu haben, ist eine Herausforderung fürs Leben. Edith Wyder und Reto Odermatt berichteten am Frauenzmorge Nidwalden über ihre Erfahrungen.
«Hand hoch, wer hat in seiner persönlichen Umgebung einen autistischen Menschen?», fragt Reto Odermatt aus Dallenwil. Es sind gar nicht mal so wenige, die sich am vergangenen Samstag am Frauenzmorge Nidwalden im «Engel» in Stans melden. Nach dem unterhaltsamen Anlass mit Sybill Schreiber und Steven Schneider vor zwei Jahren hat man sich beim Frauenbund Nidwalden nach der Coronapause für ein ernstes Thema entschieden und auf regionalen Bezug gesetzt. Reto Odermatt ist Vater eines 23-jährigen Sohnes, Edith Wyder aus Stans Mutter eines 16-jährigen, geistig behinderten Sohnes. Beide Kinder haben eine Form von Autismus.
Schnell wird klar, dass die sogenannte Autismus-Spektrum-Störung ihrer Kinder beide Eltern jeweils zum Spezialisten gemacht hat. Edith Wyder ist heute Beraterin beim kantonalen Fachdienst Autismus Luzern, Reto Odermatt Präsident des Vereins Autismus deutsche Schweiz. Der 54-Jährige lässt einen Film erklären, was Autismus überhaupt ist.
Dieser beschreibt einleuchtend: «Manchmal ist das Hirn anders verdrahtet, sodass die Sinne anders funktionieren, und es beeinflusst, wie wir Situationen sehen und wahrnehmen.» Bei Überlastung könne es zu Chaos im Gehirn kommen. Diese spezielle «Verdrahtung» im Gehirn könne zu Dingen befähigen, aber auch das Gegenteil bewirken. Vielleicht ist ein Autist gut in Mathematik, dafür findet er keine Freunde.
Eindrücklich zeigt der Film, wie ein autistisches Gehirn das Laufen auf einer Strasse wahrnimmt. Statt verschiedene Situationen nach und nach wahrzunehmen, kann der autistische Betrachter nicht ausfiltern. Sein Tunnelblick lässt ihn Dinge unscharf wahrnehmen, ein entgegenkommendes Fahrzeug blendet ihn, Geräusche sind unangenehm laut. Mitteilen kann er seine Überforderung durch Stress und Chaos nicht.
«Autisten können andere Menschen schwer lesen», erklärt Reto Odermatt. Sie ecken schnell an und nehmen Aussagen wörtlich. Er erzählt das Beispiel eines betroffenen Vorstandskollegen. Dieser wurde gefragt: «Nimmst du einen Kaffee?» Er antwortete mit «Nein», weil er ja tatsächlich gerade keinen trank. Dass er gerade eine nette Einladung schroff abgelehnt hatte, wusste er nicht.
Durch den Vergleich mit gleichaltrigen Kindern ihrer Freunde stellten die Odermatts Entwicklungsdefizite fest: «Marco nahm nichts in den Mund und plapperte auch nicht vor sich hin», erzählt der Vater. Ihr Sohn Leo habe nicht auf Geräusche reagiert, erzählt Edith Wyder. Wenn sie ihn auf den Arm genommen habe, habe er sich angefühlt wie ein schlaffes Bündel.
Die Eltern machen bis heute ihre ureigenen Erfahrungen, was ihre Kinder brauchen. Heute besucht Leo die Heilpädagogische Schule in Stans. Reto Odermatt konnte seit 2018 über einen Leistungsauftrag mit dem Kanton Nidwalden im Rahmen des Betreuungsgesetzes erwirken, um seinen Sohn individuell zu fördern. Seit einigen Jahren arbeitet Marco an drei Tagen in der Woche in der Dallenwiler Schreinerei Biber und Specht und übernimmt Hilfsdienste.
Ende gut, alles gut? Beiden Elternteilen ist anzumerken, welche Herausforderung es bedeutet, ein Kind mit Autismus grosszuziehen. Die Geschwister der betroffenen Kinder tragen die Last mit, die Freundschaften im Bekanntenkreis leiden darunter. «Wir konnten jahrelang keinen Besuch haben», erzählt Reto Odermatt. «Wir hatten den Lockdown mehrere Jahre vor Corona.» Wenn Marco eine einzige kostbare Woche im Jahr im Lager betreut wurde, habe die Familie jeweils den Zeitdruck verspürt, was sie alles in dieser Woche habe unternehmen wollen.
Der Umgang mit autistischen Kindern musste und muss sich entwickeln. Heute seien auch Kinderärzte sowie Elternberatungen für das Thema sensibilisiert, freut sich Edith Wyder. Dennoch bleiben gewisse Wünsche offen: «Ich bedauere, dass der Kanton Nidwalden das integrative Sonderschulverhalten nicht anerkennt und damit die Unterstützungsmassnahmen nur beschränkt zulässt», sagt sie.
Keine Frage, das Thema berührt die Zuhörer. Sie denken sich in die Situation der Referenten, fragen nach den Ursachen der Krankheit, nach den Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden. Die Frage nach der Zukunft löst Betroffenheit aus. Sie denke in Etappen, sagt Edith Wyder. Reto Odermatt setzt darauf, dass Sohn Marco noch selbstständiger wird. Als ihm früher einmal jemand gesagt habe, dieser sei ein Geschenk, habe das Wut in ihm ausgelöst. «Heute weiss ich, dass Marco ein Geschenk ist.»
Hinweis: Weitere Informationen zu Autismus gibt es hier.