Das Ergebnis liess nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Am 1. Dezember 1996 schafften die Stimmberechtigten die Landsgemeinde an der Urne mit 70 Prozent Ja-Stimmen ab. Ausschlaggebend war auch das Wellenberg-Endlager.
«Das klare Ergebnis lässt darauf schliessen, dass alle Schichten sich von der Landsgemeinde verabschiedet haben», hiess es am 2. Dezember 1996 – dem Tag nach der Abstimmung – in unserer Zeitung. Und auch die NZZ bilanzierte: «So wollte am Schluss keine Mehrheit an die Landsgemeinde glauben, an die Urform der Demokratie, welche laut Befürwortern Heimatgefühl und Zusammengehörigkeit fördert.» Mit 7383 gegen 3263 Stimmen hatten die Nidwaldner Stimmberechtigten sich gegen ihre uralte Tradition entschieden.
Dass Nidwalden damals die Landsgemeinde beerdigen würde, war erwartet worden. Mit der Abschaffung nahm man gleichzeitig die neue Verfassung an, die sofort in Kraft trat. Die damals im Landrat für die Landsgemeinde 1997 vorbereiteten Geschäfte unterstanden somit dem fakultativen Referendum. Das heisst bis heute: Wenn nicht ein Referendum ergriffen wird, gelten Landrats-Beschlüsse als genehmigt. Die Landsgemeinde vom 28. April 1996 ging damit als letzte in Nidwalden in die Geschichtsbücher ein.
Der Entscheid von 1996 entsprach dem damaligen Zeitgeist. Die Versammlungsdemokratie galt als überholt. Nidwalden war denn auch nicht alleine, Appenzell-Ausserrhoden verabschiedete sich ein Jahr später von der Landsgemeinde, Obwalden 1998. Einst gab es die Landsgemeinde in acht Kantonen, heute existiert sie nur noch in Glarus und Appenzell-Innerrhoden. Zwar war die Landsgemeinde bis in die 90er-Jahre wenig umstritten. In einem Text, den das Nidwaldner Staatsarchiv im Internet publiziert hat, heisst es: «Den Nachteilen, wie der geringen Stimmbeteiligung und dass es zum Beispiel Betagten nicht möglich war, teilzunehmen, wurden die Vorteile gegenübergestellt: Effiziente Meinungsbildung und Entscheidfindung sowie ausgebautes demokratisches Mitwirkungsrecht. Und nicht zuletzt wurde die Landsgemeinde als identitätsstiftende Tradition hochgehalten.» Der Glarner Politikwissenschaftler Hans-Peter Schaub kam dieses Jahr in seinem Buch «Landsgemeinde oder Urne – was ist demokratischer?», zum Schluss, das Urnensystem habe in den 90er-Jahren als modernere Form der Demokratie gegolten. In den drei Kantonen, welche die Landsgemeinde in den 90er-Jahren abschafften, seien aber spezielle Umstände hinzugekommen.
In Nidwalden kam die Landsgemeinde nicht zuletzt auch durch das Projekt eines möglichen Endlagers für radioaktive Abfälle im Wellenberg, das zu harten Auseinandersetzungen führte, unter Druck. So schreibt das Staatsarchiv: «Mehrere überlange Landsgemeinden mit über fünf Stunden Dauer und das fehlende Abstimmungsgeheimnis beim Auszählen waren nur zwei der Gründe, die schliesslich den Ausschlag gaben.» Ob nun aber die Landsgemeinde oder die Urne demokratischer sei, muss auch Politologe Hans-Peter Schaub offen lassen. Beide Systeme hätten ihre Vor- und Nachteile. Bei Urnenabstimmungen sei das Stimmgeheimnis besser geschützt und die Stimmbeteiligung höher. Umgekehrt seien in den Landsgemeindekantonen die direktdemokratischen Rechte viel stärker ausgebaut und würden auch häufiger genutzt.
Laut der Staatskanzlei schwankte die Teilnehmerzahl in Nidwalden von 1850 bis 1930 zwischen 1200 und 2200 Personen, die Stimmbeteiligung lag im Durchschnitt bei etwas über 50 Prozent. Dann aber nahm sie stetig ab. «Insbesondere nach der Annahme des Frauenstimmrechts 1972 lag sie meist deutlich unter 30 Prozent.»
Die Landsgemeinde hatte eine lange Tradition. Laut Staatsarchiv finden sich erste Spuren bereits in Dokumenten von 1398. Welche Kompetenzen diese Versammlungen hatten, geht aber erst aus Quellen des 16. Jahrhunderts hervor. «Die mündigen Landmänner ab 14 Jahren waren stimmberechtigt und wählten die Mitglieder des Geschworenengerichts sowie den Landammann, der die Landsgemeinde leitete. Die Landsgemeinde tagte jährlich im Frühling und beschloss – neben den Wahlen – über die Rechtssetzung und die Aufnahme von neuen Landsleuten.» Die Versammlung fand seit jeher im Landsgemeindering in Wil bei Oberdorf statt. Bis 1892 befand sich das sogenannte «Härdplättli», das Podium für Landammann und Landschreiber, in der Mitte des Rings. «Um von allen verstanden zu werden, musste der Landammann sich ständig drehen und wenden», schreibt das Staatsarchiv. 1892 wurde am nordwestlichen Ende eine Erhöhung errichtet, was aber die Akustik nicht wesentlich verbesserte – erst 1937 gab es eine Lautsprecheranlage. Wegen des Bevölkerungswachstums musste der Platz mehrmals vergrössert werden, so auch nach der Annahme des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene 1972.
Noch gehört der Landsgemeindeplatz dem Kanton. Die Gemeinde Oberdorf hat aber bereits eine Absichtserklärung unterschrieben, um – unmittelbar neben dem historischen Landsgemeindering – eine 2600 Quadratmeter grosse Parzelle im Baurecht zu übernehmen. Was da entstehen soll, ist noch offen.
Seit 1958 wurde die Landsgemeinde auf Tonband aufgezeichnet – die mittlerweile digitalisierten Aufnahmen können im Nidwaldner Staatsarchiv angehört werden. Auch zahlreiche Fotos und Filme aus den 1920er-Jahren erinnern an die jahrhundertealte Institution und die damit verbundenen Traditionen.
Philipp Unterschütz
Von 1990 bis 1998 war Leo Odermatt im Landrat und von 1998 bis 2010 Regierungsrat. Er war Mitbegründer des Demokratischen Nidwalden (heute die Grünen) und Gegner des atomaren Endlagers Wellenberg. An der Landsgemeinde 1994 verpasste er die Wahl in die Regierung um wenige hundert Stimmen.
Leo Odermatt, wie standen Sie damals zur Landsgemeinde? Was bedeutete Sie Ihnen?
Alle in Nidwalden sprachen mit Ehrfurcht von der Landsgemeinde. So bin ich mit ihr aufgewachsen. Für mich gehörte die Landsgemeinde zu Nidwalden wie das Stanserhorn, die Nidwaldner Tracht und das Überfalldenkmal auf dem Allweg. Im Kampf um die Mitbestimmung des Volkes beim Wellenberg lernte ich die Landsgemeinde als äusserst anspruchsvolle Institution kennen. Wer eine Mehrheit der erhobenen Hände auf seiner Seite haben wollte, musste die Stimmung im Volk kennen und reden können. Eine träfe Rede für die Landgemeinde vorzubereiten, ist etwas vom Schwierigsten.
Wie haben Sie die damaligen Diskussionen in Erinnerung?
Die Landsgemeinde wurde als die allein selig machende Identität Nidwaldens verklärt. Ich merkte aber, dass viele Leute einfach nicht mehr stundenlang Reden anhören und beim Auszählen am Drehkreuz anstehen wollten. Nicht wenige hat es gewurmt, weil sie nicht immer nach ihrer inneren Überzeugung abgestimmt haben.
Was haben Sie bei der Abschaffung empfunden?
Weder Freude noch Genugtuung. Etwas Wehmut vielleicht, aber ich hatte nicht das Gefühl, ich sei als Nidwaldner herabgemindert worden.
Hat die Abschaffung der Landsgemeinde das gebracht, was man sich erwartet hatte?
Das Erstaunliche ist, dass die Landsgemeinde sich so lange halten konnte. Es ist eine Institution aus einer langen Epoche, in der es die heutigen demokratischen Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger noch nicht gab. Es gab einen grossen Widerspruch zwischen der offiziellen Meinung über den Nidwaldner Geist und der harten Wirklichkeit. In Nidwalden hat sich zwischen 1950 und den Jahren nach 1990 die Bevölkerung verdoppelt – durch Zuwanderung. Ein immer kleinerer Bevölkerungsanteil hatte noch einen emotionalen Zugang zum Ritual der Landsgemeinde. Es ging nicht um Gewinn oder Verlust. Die Zeit hat die Landsgemeinde überholt.
(unp)
Als langjähriger Landschreiber kennt Hugo Murer beide Systeme bestens aus eigener Erfahrung. Bis zu ihrer Abschaffung hatte er fünf Landsgemeinden betreut. Dabei war er unter anderem für die Vorbereitung und Erstellung des Drehbuchs oder des Wordings zuständig.
Hugo Murer, wie wirkte sich die Abschaffung auf Ihre und die Arbeit der Behörden aus?
Sehr stark. Vorher gab es mit der Landsgemeinde ein fixes Datum pro Jahr für Wahlen und Abstimmungen. Darauf war der Arbeitsprozess ausgerichtet. Wenn Geschäfte im Landrat nicht spätestens Mitte Januar abgeschlossen waren, ging ein ganzes Jahr verloren. Wir hatten im Spätherbst viel Aufwand für die Vorbereitung der Landsgemeinde im Frühjahr. Die Arbeitsbelastung hat sich nicht geändert, aber der Jahresrhythmus. Heute sind mit dem fakultativen Referendum Abstimmungen jederzeit möglich.
Hat die Umstellung auf das Urnensystem gebracht, was man sich versprochen hatte?
Die Stimmbeteiligung hat auf jeden Fall markant zugenommen, so wie die Befürworter der Abschaffung argumentiert hatten. Anderseits hat sich das Politisieren verändert. Die direktdemokratische Auseinandersetzung an der Landsgemeinde ist bedeutend stärker fokussiert. Jeder Teilnehmer konnte ohne grosse finanzielle Aufwendungen nur durch gute Argumente etwas bewirken. Heute sind beispielsweise Gesetzesinitiativen oder Abänderungsanträge faktisch nur mit einer Partei im Rücken möglich. Man kann die beiden Systeme aber nicht einfach einander gegenüberstellen, jedes hat Vor- und Nachteile.
Was bedeutete für Sie die Abschaffung?
Ich fand das schade. Die Landsgemeinde war auch für mich ein identitätsprägendes Element und ein sehr emotionaler Bereich der Politik. Bei (Bestätigungs-)Wahlen zeigte sich die Relativität der Macht. Auch Regierungsräte, die scheinbar fest im Sattel sassen, wussten stets, dass sie mit unerwarteten Wendungen rechnen mussten. Als Landschreiber sass ich immer zuvorderst direkt neben dem «Härdplättli» (erhöhte Plattform im Landsgemeindering, Red.) und konnte genau beobachten, wie konzentriert und angespannt die Redner waren. Und das mussten sie auch. Ob Politiker oder Bürger – alle waren sich bewusst, dass zwei, drei unbedachte Worte reichen konnten, um fatale Auswirkungen zu haben. Man musste präzise sein, und eine sorgfältige Wortwahl war entscheidend.
(unp)