Der St.Galler Autor und Rollstuhlfahrer Christoph Keller schreibt seit über zwei Jahren in dieser Zeitung offene Briefe an ausgewählte Personen – immer mit dem Ziel, die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im öffentlichen Dialog zu erhöhen. Im November wandte er sich an «Tagblatt»-Chefredaktor Stefan Schmid. Hier nun dessen Antwort.
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Im November schrieb der St.Galler Autor Christoph Keller an die Chefredaktion dieser Zeitung. Er wollte unter anderem wissen, welche Spuren er in der Berichterstattung hinterlassen hat. Nun antwortet ihm «Tagblatt»-Chefredaktor Stefan Schmid. Er ist überzeugt, dass die Sensibilität für Anliegen von Menschen mit Behinderungen deutlich zugenommen hat, auch dank des Engagements von Christoph Keller.
Lieber Christoph Keller
Seit über zwei Jahren schreiben Sie in dieser Zeitung monatlich einen offenen Brief an ausgewählte Personen oder Organisationen. Einige haben Ihnen geantwortet, andere haben Sie ignoriert. Für dieses unermüdliche Engagement möchte ich Ihnen herzlich danken.
Sie fragen mich, wie sich die Berichterstattung über Behinderte in dieser Zeit verändert hat. Schwierig zu sagen. Veränderungen geschehen ja in der Regel nicht ruckartig von heute auf morgen, sondern prozesshaft – zwei Schritte nach vorne und wieder einen zurück. Oft geht es dabei natürlich viel zu langsam vorwärts, insbesondere aus der Sicht der Direktbetroffenen.
Es gibt viele Anspruchsgruppen in unserer Gesellschaft. Viele Minderheiten haben das Gefühl, ihre Anliegen kämen in den Medien zu wenig vor oder würden nicht adäquat abgebildet. Das mag da und dort sogar stimmen. Doch letztlich folgen Medien einer anderen Logik.
Wir haben keine gesellschaftspolitische Erziehungsaufgabe im eigentlichen Sinne. Wir sind eine private Firma, die mit gutem Journalismus Geld verdienen muss.
Das hat einen Einfluss auf die Berichterstattung. Um erfolgreich zu sein, ist es entscheidend, grosse Teile der Bevölkerung anzusprechen, ihnen die Themen zu liefern, die sie beschäftigen. Das beisst sich mitunter mit den berechtigten Anliegen von Minderheiten, ebenso gehört zu werden.
Wir haben Ihnen als Medium eine Plattform geboten – und bieten diese weiterhin – damit Sie auf Ihre berechtigten Anliegen aus der Sicht eines Rollstuhlfahrers aufmerksam machen können. Sie haben sich dieser Aufgabe mit Witz und Charme, aber auch mit viel Energie und Seriosität gewidmet. Wir sind meines Wissens die einzige Zeitung in der Schweiz, die ein Mann mit körperlicher Behinderung regelmässig zu Wort kommen lässt. Das ist allerhand, finde ich. Wir leisten damit indirekt einen Beitrag für mehr Verständnis und Wahrnehmung.
Aber das haben Sie mit Ihrer Frage wohl nicht gemeint. Hat sich unsere Berichterstattung über Behinderte geändert? Ja, ich glaube schon, dass nicht zuletzt dank Menschen wie Ihnen die Sensibilität für Anliegen von Menschen mit Behinderung deutlich zugenommen hat. So wie in den vergangenen Jahren auch die Sensibilität für transsexuelle oder schwule und lesbische Menschen deutlich zugenommen hat. Menschen mit einer körperlichen Behinderung werden häufiger als früher mitgedacht, wenn es darum geht, städtebauliche Pläne oder den Umbau eines Einkaufszentrums oder die Zustiegsmöglichkeiten in den öffentlichen Verkehr zu beurteilen. Aber natürlich, Sie haben gewiss Recht, wenn Sie schreiben, viel zu häufig werden die Behinderten separat in einem behinderten Kontext, anstatt in die normale Berichterstattung integriert. Ich verspreche Ihnen, wir arbeiten daran.
Veränderungsprozesse brauchen immer Zeit. Umso wichtiger ist es, dass sie von engagierten Menschen wie Ihnen, geschätzter Herr Keller, angestossen und mit provokativen Eingaben vorangebracht werden. Wir helfen gerne mit. Und nehmen uns selber an der Nase, wenn wir mal wieder eine Gelegenheit verpasst haben, gesellschaftliche Entwicklungen auch danach abzuklopfen, ob sich die Situation für Behinderte damit tatsächlich verbessert.
Medien sind nicht besser als die Gesellschaft, die sie abbilden.
Sie machen oft dieselben Fehler und unterliegen denselben Irrtümern. Umso wichtiger sind aktive Störenfriede, welche die Mehrheitsgesellschaft aus ihrer gemütlichen Lethargie reissen.
Ich wünsche Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit und freue mich, weitere Kolumnen aus Ihrer Feder zu lesen.
An Patrik Müller und Stefan Schmid
CH Regionalmedien AG
Fürstenlandstrasse 122
9000 St.Gallen
St.Gallen, am 10. November 2022
Sehr geehrter Herr Patrik Müller,
Sehr geehrter Herr Stefan Schmid,
seit über zwei Jahren schreibe ich für Ihre Zeitung offene Briefe, die sich dafür einsetzen, dass die Schweiz behinderte Menschen weniger diskriminiert und barrierefreier wird. Meine Schlussfolgerungen sind: mehr Sichtbarkeit, mehr Partizipation und viel mehr Repräsentanz werden diese Probleme entscheidend entschärfen.
Wie erfolgreich ich mit meinen Briefen bin, ist schwer zu sagen. Handfestes kam vom World Economic Forum (WEF) in Form einer Einladung als Speaker und vom Theater St.Gallen, in der Findungskommission für die neue Schauspieldirektion einzusitzen. Es gab viele leere Versprechen, so ein runder Tisch mit der SVA St.Gallen und blumige Worte von Bundesrätin Sommaruga. Und es gab viele, die meine Anliegen schlicht ignorierten, die Architekten Herzog & de Meuron oder die Fussballnati.
Ich weiss nicht, wann mir die Kraft ausgehen wird. Gegen diese Behindertenbarriere – jene, die uns in Sachen Repräsentanz am meisten im Weg steht – mit einer Behinderung anzukämpfen, ist anstrengend und frustrierend. Vorerst aber erlaube ich mir, Brief Nummer 20 an jenes Medium zu richten, das meine Einwürfe erfreulicherweise überhaupt publiziert. Das ist enorm, und ich meine, wir haben damit ein bisschen zur Verbesserung der Situation beigetragen.
Was mich in diesem Zusammenhang natürlich sehr interessiert, ist, von Ihnen zu erfahren, was für Spuren ich in «meiner» Zeitung hinterlassen habe.
Hat sich die «Behindertenberichterstattung» im «Tagblatt» geändert und wie? Davon würde ich gern hören, darüber möchte ich diskutieren.
Was mir sehr positiv aufgefallen ist: Es wurden in letzter Zeit häufiger ganzseitige und auch substanziellere Artikel über behinderte Menschen publiziert: so über Cem Kirmizitoprak, Damian Bright oder der aufrüttelnde Bericht «Die im Dunkeln sieht man nicht»: Was das Ende der Pandemie-Schutzmassnahmen für vulnerable und behinderte Personen bedeutet. Mögen die Massnahmen auch weg sein, das Virus ist es nicht. Das gilt immer noch.
Was mir jedoch schmerzhaft fehlt, ist das allgemeine Einbeziehen von Menschen mit Behinderungen im «normalen» Kontext. Immer noch kommen wir segregiert vor. Kürzlich – am 2. November 2022 – gab es ein verstörend typisches Beispiel. Der Artikel «Ein Blick in ein Leben unter der Erde» schüttelt uns mit der Möglichkeit durch, vor einer atomaren Katastrophe in unsere Schutzräume fliehen zu müssen. Dort gibt es ein sehr rudimentäres WC, auch eine Leiter als zweiten Ausstieg aus dem Bunker. Ob es einen Fahrstuhl gibt, wird nicht erwähnt.
Da wird behinderten Menschen, wie leider allzu oft, klargemacht, dass sie nicht mitgedacht werden. Vielleicht haben die Behörden ja für alle Fälle vorgesorgt. Was aber hat die Autorin dieses Artikels daran gehindert, mit einigen Sätzen auf die Situation jener einzugehen, die notfalls nicht einfach eine Leiter hochsteigen können? Das Problem aber ist nicht dieser Artikel.
Das Problem ist, dass auf die Thematik Behinderung ausserhalb des typischen Behindertenartikels systematisch nicht eingegangen wird, als würden wir als Teil der «normalen» Bevölkerung schlicht nicht existieren.
Das war (ist!) während der Coronapandemie so, es ist jetzt während der Energiekrise wieder so: So viele repetitive Interviews dazu, ob und wie viele Kerzen man einkaufen soll, aber kein Wort darüber, was mit uns behinderten Menschen, die es zwangsläufig härter treffen wird, wenn das Licht ausgeht, geschieht. Täglich ausführliche Berichte über diesen grauenhaften Krieg, aber höchstens beiläufig einmal etwas darüber, wie viel schlimmer es behinderten Menschen in einer solchen Situation ergeht.
Behinderung kann nur normalisiert werden, wenn sie möglichst oft auch im nicht behinderten Kontext vorkommt. Was nottut, ist eine radikale Durchmischung von Menschen mit und ohne Behinderungen. Nur so kann die Behindertenmauer durchbrochen werden. Das gilt auch für die Fotoauswahl. Wie viel Normalisierung hier geschaffen werden könnte, wenn Menschen mit Behinderungen regelmässig in nicht behindertem Kontext gezeigt werden würden! Ich habe einen meiner offenen Briefe an die Fotoredaktion des «Tages-Anzeigers» geschickt, aber keine Antwort erhalten. Es wäre spannend, dies mit der Fotoredaktion des «St.Galler Tagblatts» zu diskutieren.
Ich freue mich auf Ihre Antwort und auch Diskussionen, wie eine bessere Durchmischung zu erreichen wäre. Eine radikalere Durchmischung, auf dass bald nicht mehr zwischen «normal» und «nicht normal» unterschieden wird.
Es grüsst Sie herzlich,
Christoph Keller
Schriftsteller, Rollstuhlfahrer und «Tagblatt»-Leser
www.christophkeller.us
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